Auf dem Weg nach Europa
Ein Text von Bashir (Fouad) Mirzaii.
„Eines Menschen Heimat ist auf keiner Landkarte zu finden, nur in den Herzen der Menschen, die ihn lieben.“ Diesen Satz von Margot Bickel lernte ich (auf Persisch), als ich 14 war, auswendig. Mit 18 las Demian von Hermann Hesse. Ich hatte immer Interesse an deutscher Literatur und Philosophie. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich eines Tages Deutsch lerne und die Gedichte von Margot auf Deutsch lesen kann. Oder wenn ich Bettina Wegner höre, ich sie verstehe. Ich hab mir so viel Mühe gegeben, um meine Gedanken, Gemeinsamkeiten, Leiden, Freunde mit Menschen teilen zu können, die Menschen nicht in verschiedenen Gruppen teilen wollen, denen, bevor sie an Rasse, Religion, Hautfarbe, Sprache Nationalität denken, nur die Menschheit wichtig ist. Es freut mich sehr, dass ich letztendlich auf Deutsch schreiben kann und hab mich entschieden über meinen Weg nach Europa und meine Erfahrungen in Dortmund zu erzählen.
Ich bin auf dem Weg nach Europa. Das genaue Ziel ist unklar. In welches Land sollte ich fahren? Diese Frage stelle ich mir nicht. Es ist mir egal, wo ich lande. Die Hauptsache ist für mich, vom Nahen Osten wegzugehen.
An der Grenze der Türkei sind wir ungefähr 20 Leute. Ein paar Sprachen werden gesprochen: Persisch, Arabisch, Kurdisch, Türkisch. Es ist Mitte Oktober. Seit zwei Stunden sind wir ganz still geblieben; wir dürfen uns nicht bewegen. Die Kinder zittern. Ihnen ist kalt, trotzdem sind sie sehr ruhig.
Die Schmuggler stehen vorne. Sie sind bewaffnet. Eine junge Frau, die neben mir weint, fragt mich leise: „Sie sind Kurde?“ Ich antworte ihr: „Hallo. Ja ich verstehe kurdisch.” Sie fährt fort: „Ich habe hier Angst. Ich bin jung und ich habe viele Male gehört, dass auf dem Weg nach Europa Frauen von Schmugglern vergewaltigt werden. Kann ich bis Istanbul bei Ihnen bleiben? Damit die wissen, dass ich nicht hier alleine bin. Sie haben mir schon ein paar Mal sehr seltsame Blicke zugeworfen.“ Ich erwidere: „Natürlich. Wir sind vier Personen, drei Männer und eine Frau. Wir haben alle hier ein gemeinsames Ziel: nach Europa. Sie müssen keine Angst haben. Wir haben auch etwas zum Essen dabei.“ Sie bedankt sich: „Ich kann nichts essen. Ich will nur von diesem Wald und der Dunkelheit weg.“ Ich versichere ihr: „Wir werden morgen in Istanbul sein. Das verspreche Ihnen.“ Sie erzählt: „Ich hab nur noch eine Schwester, alle anderen aus meiner Familie sind im Krieg ums Leben gekommen. Sie ist Gott sei Dank jetzt in Dänemark. Ich hab nur noch sie!“ Ich sage: „Sie werden sie bald treffen.“ Sie erwidert: „Ich hoffe es. Ich will nur das.“
Krieg, Naturkatastrophen, Armut und Politik sind die ersten Gründe, die den Menschen zwingen, seine Heimat zu verlassen. Ich denke: alles wird gut. Der Gedanke kommt mir in den Sinn, dass wir Menschen immer einen Grund haben, weiter zu leben. Die Frau hat ihre Eltern im Krieg verloren und trotzdem will sie ein neues Leben aufbauen. Seine Hoffnung muss man ja nie aufgeben, auch wenn man seine Lieben verliert. Bestimmt wird sie in Europa glücklich, weil es dort seit Jahren keine Kriege gegeben hat, weil die Menschen dort Zeit haben, nachzudenken. Und weil sie dort die Möglichkeit haben, sich normal weiter zu entwickeln. Und weil ich weiß, dass Menschen dort menschlicher sind als wir. Nein, sie können nicht menschlicher sein. Es stimmt nicht. Sie waren die Verursacher von beiden Weltkriegen. Dadurch sind Millionen Menschen gestorben. Ich denke: Eigentlich liegt alles an der Situation, in der man lebt. Doch es gibt kein Volk und keine Religion, die nicht gegeneinander gekämpft haben. Hass gehört ja auch zu allen Menschen, genau wie die Liebe. Ein Kind kennt gar keinen Hass. Es lernt ihn durch Erwachsene, die an einen Gott oder an irgendeine Ideologie glauben. Kinder lernen von Erwachsenen, wen sie lieben und wen sie hassen müssen.
Mütter können aber niemanden hassen. Meine Mutter habe ich seit vier Jahren nicht gesehen, sie liebt mich. Falls mir auf diesem Weg etwas passieren würde, würde sie nicht mehr leben können. Ich denke, es war richtig, dass ich sie nicht informiert habe, dass ich nach Eurpa gehe. Sobald ich in einem europäischen Land bin, werde ich ihr Bescheid geben.
Was wird uns erwarten? Entweder werden wir auf dem Weg sterben, oder wir beginnen in Europa ein ganz anderes Leben. Es lohnt sich vielleicht, dass man sein Leben für einen neuen Zustand riskiert.
„Aufstehen, wir müssen los!“ In die Männer kommt Bewegung. Ich lasse alle meine Gedanken hinter mir und konzentriere mich ganz auf meinen Weg, den ich mit den anderen laufe. Nach einer Stunde gelangen wir an einen Ort, an dem ein LKW steht. Alle müssen einsteigen. Ja, der erste Schritt ist geschafft. Wir sind in Istanbul. Den zweiten und gefährlicheren Schritt beginnen wir morgen. Wir werden mit einem ziemlich kleinen Boot bis zu einer griechischen Insel fahren.
Früh am Morgen lässt man uns wieder in einen LKW einsteigen. In dem LKW sind wir fast 60 Personen. Es ist viel zu eng zum sitzen. Nur die schwangeren Frauen haben einen Sitzplatz. Kinder, die klein sind, müssen sich zusammen hinsetzen. Alle anderen müssen so eng wie möglich beieinander sitzen. Wir sind hier alle zueinander nett; wir teilen unser Essen und kommen während der Fahrt ins Gespräch.
Gegen 17 Uhr kommen wir neben einem Meer an und müssen hier übernachten. Alle sind aufgeregt und weil es kalt ist, kann niemand schlafen. Außerdem haben wir keine Decken bei uns. Fast alle sind nun miteinander im Gespräch; wir fragen uns gegenseitig nach Herkunft, Alter… und wir sprechen über Europa, oder wie eine Frau sagt: Neue Heimat.
„Rauchst du auch?“ Ein alter Mann bietet mir eine Zigarette an, die ich dankend annehme. Er will wissen: „Woher kommen Sie?“ Ich erwidere: „Keine Ahnung. ich weiß es nicht und ich bin nicht stolz darauf .“ Er sieht so aus, als ob er etwas Wertvolles verloren hätte.
Das stimmt auch. Der alte Mann kommt aus Syrien. Er ist Christ und der IS hat seinen Sohn vor seinen Augen hingerichtet. Seine Frau und seine Tochter sind in der Türkei geblieben. Er hatte Angst, seine Familie ans Meer zu fahren.
Da denke ich an eine Familie, die vor zehn Jahren nach Europa auswandern wollte: ein Mann mit seiner Frau und seinem Kind. Diese Familie hatte ein dramatisches Schicksal. Ihr Boot sank, und da der Mann schwimmen konnte, konnte er sowohl die Frau als auch das Kind etwa eine halbe Stunde halten und nicht ertrinken lassen. Aber er hatte nicht genug Kraft, um beide zu halten. Daher musste er zwischen seiner Frau und seinem Kind entscheiden, wen von ihnen beiden er retten soll. Er ließ seine Frau vor seinen Augen ertrinken und schwamm weiter mit dem kleinen Mädchen. Nach ein paar Stunden wurde er müde und kraftlos. Er verließ sein Kind im Meer und schwamm alleine weiter bis zu einer Insel.
Es ist Morgen. Alle müssen wir nun ans Meer gehen. Ein paar Männer sind dort und haben bereits ein Boot vorbereitet. Sie haben uns eigentlich versprochen, dass sie zwei Boote zur Verfügung stellen. Nun jedoch müssen wir alle in ein Boot einsteigen. Wir sind genau genommen gezwungen, dort einzusteigen. Denn die Männer haben Waffen dabei und sie brauchen sie für genau diesen Moment: um uns Angst zu machen. Nach einer Stunde sind wir endlich eingestiegen. Fast alle sind wir weiß vor Angst. Derjenige, der das Boot fährt, kennt sich nur wenig mit der Schifffahrt aus. Wir sind am Wasser, Kinder und Frauen weinen, Männer streiten, ein paar Christen und Muslime haben ein kleines Buch dabei und beten und wollen so die Situation beruhigen. Das Boot fährt jetzt aber besser und langsam. Wir sehen noch keinen Insel. Ich schaue aufs Meer und rede langsam mit meinem Freund über dieses Meer, in dem tausende Menschen schon ertrunken sind. Jemand, der sehr ängstlich aussieht, schreit und sagt, dass wir alle zusammen beten müssen. Alle machen mit außer mir und meinem Freund. Die anderen merken das. Einer auf der anderen Seite sagt, „ja Leute, jeder ist frei, ob er beten will oder nicht“.
Ich schaue aufs Meer. Ich glaube, wenn wir hier sterben müssten, dann müssten wir sterben. Niemand vom Himmel kann uns retten, niemand kann den Kindern auf diesem Boot helfen, falls etwas passiert. Ja, Gott hat auch uns vergessen, sonst hätten wir in unseren Ländern bleiben können. Wenn wir hier ertrinken werden, werden wir bestimmt schnell vergessen werden, genau wie tausende Menschen, die hier vor uns gestorben sind und deren Leichen von Fischen aufgefressen worden sind. Ein paar Schlagzeilen in den Medien und die gleiche Geschichte beginnt von vorne.
Das Boot ist undicht, Wasser ist schon hineingelaufen. Frauen und Kinder, die am Boden des Bootes sitzen, sind nass. Ein junger Mann ist wütend auf den Bootsmann. Er ist vorsichtig und fährt langsam. Daher ist der junge Mann sauer und glaubt, dass wir nicht genug Benzin bei uns haben. Der Bootsmann sagt zu ihm: „Das geht dich nichts an. Misch’ dich nicht ein!“ Die Kinder beginnen zu weinen. Plötzlich hat der Junge ein Messer in der Hand und will das Boot kaputt machen. Es ist ihm Ernst damit, ich kann das in seinem Gesicht sehen. Es ist still geworden auf dem Boot. Eine Frau weint und nimmt ihre kleine Tochter in die Hände und schreit und schreit… Ich habe sie nicht verstanden, da sie Arabisch sprach. Der Junge versteht sie auch nicht aber er fängt an zu Weinen und setzt sich. Wir fahren friedlich weiter. Endlich erreichen wir die griechische Insel.
Die Menschen sind erleichtert und total froh, dass sie noch am Leben sind. Ich spreche mit der Frau, die nach Dänemark zu ihrer Schwester gehen will und schreibe ihr meinen Namen auf, damit wir später auf
Facebook noch in Kontakt bleiben können. Wir verabschieden uns.
Der Rest des Weges ist nicht so gefährlich. Wir müssen bis nach Deutschland stundenlang in der Schlange bleiben. Viele Male gab es gewaltsame Begegnungen mit der Polizei. Ich habe unterwegs zu viele schreckliche Dinge gesehen, die meine Meinung geändert haben. Beispielsweise sah ich eine Frau mit ihrem Sohn; der Sohn war krank und trotz Kälte mussten sie in der Nacht draußen übernachten, obwohl die Polizei von Kroatien um ihre Situation wusste. Am nächsten Tag konnten weder die Frau noch der Sohn noch sprechen und letztendlich kam ein Krankenwagen und brachte sie ins Krankenhaus.
Nach ein paar Tagen bin ich in Deutschland. Ich verstehe kein einziges deutsches Wort. Ein Polizist, der sehr freundlich ist, bietet uns auf Englisch Wasser und Essen an; danach holt er uns zu einem Büro und stellt uns einige Fragen über unsere Herkunft und alle andere Sachen, die sie wissen müssen und endlich werden unsere Fingerabdrücke genommen, na ja so müssen wir in Deutschland bleiben. Nach drei Monaten bin ich in Dortmund angekommen und muss nun hier leben.
Sofort fange ich in der Unterkunft damit an, die deutsche Sprache zu lernen. Mein Englisch ist nicht so perfekt; um mich mit Deutschen zu unterhalten muss ich ihre Sprache so schnell wie möglich beherrschen. Alleine lerne ich im Internet, wie man Menschen auf Deutsch begrüßt, und ich lerne, etwas über mich zu erzählen. Nach sechs Monaten bekomme ich einen Deutschkurs und besuche ihn. Mein Deutsch wird besser. Ich kann nach einem Jahr über politische und gesellschaftliche Themen meine Meinung äußern, obwohl ich die deutsche Sprache noch nicht gut kann. Die Hauptsache für mich ist, dass mich die Deutschen verstehen. Jetzt versuche ich, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und sie kennenlernen; zahlreiche Menschen sind nett und möchten gerne auch mit mir reden, manche Leute auch nicht. Sie wollen es nicht direkt sagen, aber sie lehnen es ab, mit einem Ausländer zu reden. Ich kann das nicht nachvollziehen. Ich lerne noch weiter Deutsch und beschäftigte mich jetzt richtig mit der Geschichte und dem Verhalten der Deutschen. Bei Behörden ist das Verhalten gegenüber Menschen, die Migrationshintergrund haben, oft unfreundlicher als gegenüber denjenigen, die Deutsche sind. Das kann ich bis heute noch nicht verstehen. Ich lerne weiter Menschen lernen und das motiviert mich, mein Deutsch noch weiter zu verbessern.
Seit dreieinhalb Jahren lebe ich nun in Dortmund. Ich habe hier manchmal Diskriminierung gesehen, ich habe gesehen, dass manche Leute hier Ausländer für schrecklich halten, ich hab gesehen, dass viele Ausländer sich als Menschen zweiter Klasse fühlen. Aber dennoch habe ich auch nette Menschen gesehen, die mitleiden können. Sie können fühlen, was es bedeutet, wenn man seine Heimat verlassen muss, wenn man nicht selber diese Entscheidung getroffen hat, wenn man alles von null anfangen muss. Ich habe Menschen gesehen, die weinen müssen, wenn sie die Geschichte vieler Ausländer hören. Ich habe tausende Menschen in diesem Land und besonders in Dortmund gesehen, die sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren. Wenn ich diese Menschen sehe, muss ich auch Verantwortung übernehmen und mich bei ihnen bedanken. Das motiviert mich täglich noch weiter Deutsch zu lernen und mich hier gerne zu integrieren. Diese unglaublich netten Menschen haben mich mit ihrer Freundlichkeit aber schon automatisch in die Gesellschaft gebracht.
Bashir ist Journalist aus dem Iran. Er sucht nach Möglichkeiten, seine Texte zu veröffentlichen, oder als Journalist zu arbeiten. Wer Interesse hat um mit ihm zu arbeiten, kann uns gerne eine Email schreiben: info [at] gefluechtete [minus] dortmund [punkt] de